Tropische Nächte bei November-Ekelwetter

Vor 30 Jahren wurde die Berliner Mauer löchrig.
Unser webmaster, der damals in Berlin diese Tage persönlich miterlebte, berichtet.

Es war am 9.11.1989 November-Ekelwetter – kalt und naß.
Schwere Erkältungssymptome veranlaßten mich,
das Bett zu hüten und den Fernseher einzuschalten.
Nach 13:00 war bei der ARD Sendepause (Testbild) bis 16:00.

Aber das DDR-Fernsehen lief durch.
Medizin nach Noten, eine Art Aerobic nur langesamer mit drei Vorturnerinnen
oder eine neue Folge Russisch für unsere Freunde erwartete ich.
Nein, es wurde direkt aus der Volkskammer
in „Erichs Lampenladen“ (offiziell Palast der Republik) übertragen.
Bisher wurde der Staatsrat von den Abgeordneten beweihräuchert.
Aber was war das jetzt? Die Abgeordneten übten schonungslose Kritik am Staatsrat.
Hoppla, was ist da los?
Die Krönung war die Rede von Erich Mielke (Chef der Stasi) ,
der dann äußerte
„Aber, aber ich liebe Euch doch alle“
und sich daraufhin ein Riesengelächter
der Volkskammer-Abgeordneten einfing.

Nach Abschluß der Volkskammersitzung wurde umgeschaltet,
zu DER Pressekonferenz mit Günter Schabowski.

Nachdem er ankündigte, daß DDR-Staatsbürger die DDR verlassen können und er dies auf Nachfrage der Journalisten „ab wann dies gilt?“ und er mit „sofort“ antwortete, rief ich meinen Kollegen im Fraunhofer-Institut an, er möge mal jetzt Feierabend machen und seine „Hütte“ besucherfreundlich herrichten.
„Wieso?“ fragte er.
„Du könntest heute Abend Besuch aus‘m Osten bekommen!“.
„Du nimmst ma uff de Schippe?“.
„Nee, Jünter Schabowski hat‘s eb‘n im Ost-Fernsehn jesagt.
Die Mauer is offen!“.
“Nee!“.
“Doch“.
“Du Schei…“ (… nach der Währungsunion war Hochzeit.)

Danach hörte ich den  RIAS (Rundfunk Im Amerikanischen Sektor) nach Neuigkeiten ab.
Es wurde gemeldet, dass sich an der Borholmer Brücke was täte. Die Erkältung war wie weggeblasen.
Schnell war ich warm angezogen und fuhr mit der S-Bahn (damals noch DDR- Reichsbahn) Richtung Wedding zur Bornholmer Brücke. Auf der Westseite haben sich viele Berliner versammelt. Trotzdem war für mich Walter Momper (damaliger regierender Bürgermeister) mit seinem großen Gesicht und dem roten Schal auszumachen. Gefühlten Jahren und kalten Füßen später kam die erste „Pappe“ (Spitzname für den Trabbi) und die ersten „Fußgänger“ aus Ost-Berlin.
Wildfremde Menschen drückten sich und  weinten gemeinsam vor Freude.
Das Dreckswetter spielte keine Rolle, denn die Emotionen heizten gut.
Auch die kalten Füße wurden wieder warm.
Das Wetter wurde von diesem Jahrhundertereignis komplett ausgeblendet.

Am  ersten Tag danach, verkündete der RIAS, daß Ost-Berliner 100 DM Besuchergeld in Postämtern gegen Vorlage ihres Ausweises erhalten, kostenlos Bus und  U-Bahn benutzen dürfen und das Berliner Betriebe am Bahnhof Zoo und um die Gedächtniskirche eine Begrüßungsparty organsiert haben.

Gegen Abend machte ich mich zum Zoo mit der S-Bahn auf.
Bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße, der in Ost-Berlin liegt, war die Anreise noch entspannt.
Gewöhnlich benötigte ich von der unteren Plattform zur oberen Plattform Richtung Zoo
25 Sekunden. Am 10.11.89 dauerte es  grob 20 Minuten.
Der gesamte Bahnhof war voller Menschen, die Richtung Westen wollten.
Die S-Bahn-Züge Richtung Zoo waren „proppe voll“ oder wie der Schwabe sagt „g‘steckt voll“.
Auch am S-Bahnhof Zoo war es ähnlich. Die Plattform war menschenüberflutet und der Abgang zur Hardenbergstraße auch. So viele Menschen habe ich in der West-Berliner City um den Zoo und um die Gedächtniskirche noch nie gesehen!

Zwischen Zoo und Gedächtniskirche hatten Berliner Betriebe freien  Ausschank (so lange Vorrat) eingerichtet. Für Ost-Berliner gab es Frei-Bier-Kuchen-Wurst-Käse usw..
Vermutlich hatte jede(r) West-Berliner(in) eine(n) Ost-Berliner(in) unter ihre/seine Fittiche genommen und sie bestmöglich geleitet, unterstützt und mit ihnen gefeiert und gequatscht (schwäb. g’schwätzt).
Meinen drei Ost-Berlinern, zwei Schlossern
und einem NVA-Fallschirmjäger
(Frage:      Wie jagt man Fallschirme?
Antwort: Man setzt sich still ins hohe Gras und ahmt das
Geräusch einer wachsende Mohrrübe nach.)
verhalf ich noch nach 21:00 auf dem noch geöffneten Postamt im Flughafen Tegel zum Begrüßungsgeld.

Wir trennten uns glücklich,
tauschten Adressen und Telefonnummern aus,
hatten aber nie wieder Kontakt miteinander.

In der Erninnerung  fühlen sich für mich diese Tage immer noch
als  „Tropische Nächte bei November-Dreckswetter“ an.

Steinenbronn hat keine S-Bahn, keinen Zoo und keine Gedächtniskirche
und doch haben viele Steinenbronnerinnen und Steinenbronner
seit Jahrzehnten Menschen unterstützt, „bei der Hand“ genommen und integriert.

Diese Steinenbronner fühlen täglich „tropisches Wetter, egal zu welcher Jahreszeit“.

Wilfried Milow

(webmaster)

 


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